Evolution – too fast forward?

Evolution – too fast forward?

Folgt man den Anthropologen Voland, Chasiotis und Schiefenhövel und deren in ihrem Buch „Grandmotherhood – The Evolutionary Signifincance of the Second Half of Female Life“ vertretenden These, so war die evolutionäre Entwicklung des Klimakteriums für die Entwicklung des Homo Sapiens entscheidend. Bei keinem anderen Primaten hat die Evolution den weiblichen Tieren die Möglichkeit eingeräumt, das Gebären zu überleben. Insgesamt gibt es wohl nur noch bei einigen Walen Ansätze für ein Klimakterium. Als Konsequenz gab es beim Homo Erectus und später Homo Sapiens Großmütter, die sich um ihre Enkel kümmern und die Erfahrungen weitergeben konnten. Damit sich das Potential, das die Großmütter für die Evolution der menschlichen Gesellschaft boten, voll entfalten konnte, war es erforderlich, dass parallel Aufnahmebereitschaft von und das Verständnis für Geschichten schon im Kleinkind stark ausgeprägt vorhanden waren. Es liegt nahe anzunehmen, dass in diesem Zusammenhang das bis heute wirksame Bedürfnis nach „Narrativen“ und auch die Fähigkeit beziehungsweise das Verlangen des Menschen entstanden ist, an eine höhere Autorität zu glauben. Sicherlich überspitzt ist die Frage, ob die Kinder-Betreuung durch die Großmütter die Wanderungen des Homo Erectus, später des Neanderthalers und letztlich unserer Vorfahren aus Afrika überhaupt erst ermöglicht hat und mit welchen Geschichten beziehungsweise Erzählungen diese Wanderungen begleitet und die Menschen dazu motiviert wurden.

Nachdem unsere Vorfahren Afrika verlassen und das heutige Europa und Asien besiedelt hatten, beschleunigte sich die mit den Großmüttern begonnene zivilisatorische Evolution. Die Entwicklung der Landwirtschaft markiert vermutlich den Zeitpunkt, an dem die menschlich-zivilisatorische Evolution begonnen hat, die der Natur zu überholen und sich weiter zu beschleunigen. Seitdem ist die Natur offenbar nicht in der Lage, sich zu wehren. So bleibt es dem Menschen überlassen, seinen natürlichen Lebensraum selbst zu zerstören. (Siehe dazu auch Jared Diamond: „Kollaps: Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ *2.) Erfahrungen wurden übermittelt, erworbenes Wissen gelehrt und existentielle Fragestellungen durch Glauben an reale, religiöse oder philosophische Autorität beantwortet. Die Großmütter wurden durch Lehrer, Erzähler und Priester ergänzt beziehungsweise ersetzt. Die menschliche Evolution führte dabei zu immer weiteren, regional unterschiedlichen aber nachhaltigen Eingriffen in die Natur wie zum Beispiel die großflächigen Abholzungen für den Schiffsbau (Mittelmeerküsten) oder Bergbau (Lüneburger Heide) oder die Ausrottung des Großwilds – Ausnahme wohl nur die Bisons – in Folge der Besiedelung Amerikas.

Exponentiell beschleunigt aber hat sich die evolutionäre Geschwindigkeit, seit gedruckte Bücher die Großmütter bei der Wissensvermittlung weitgehend abgelöst haben und die Aufklärung und die ihr folgende industrielle Revolution dem Homo Sapiens bis dahin ungeahnte Möglichkeiten zur Verbesserung der „Conditio Humana“ gegeben hat. Erkenntnis und Wissen nahmen und nehmen immer schneller zu, Innovationen führen zu ungeahnten Steigerungen an Produktivität und Lebensqualität. Gleichzeitig helfen die Maschinen dem Menschen sein intellektuelles wie physisches Potential auszuschöpfen. So glaubten offenbar viele Experten am Beginn des 20. Jahrhunderts, dass der Mensch Geschwindigkeiten über 20 km/h nicht würde überleben können. Heute fliegen Menschen mit Überschallgeschwindigkeit und setzen sich routinemäßig Belastungen aus, die dem Mehrfachen der Erdbeschleunigung entsprechen. Und während der Mensch sein eigenes Potential immer weiter ausschöpfte, entwickelte er Maschinen viel schneller weiter, als er sich selbst je entwickelt hat. So ist der Unterschied zwischen dem T-Modell von Henry Ford und einem modernen Auto wesentlich größer als zwischen uns und unseren Vorfahren, die in ihren Höhlen den Erzählungen ihrer Großmütter lauschten. Aber es ist festzuhalten, dass die Menschen die Kontrolle über die Maschinen und Prozesse während der industriellen Evolution behalten haben. Und begleitet wurde diese Evolution durch ein Narrativ, das immer stärker auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der individuellen, realen Existenz abzielte.

Mit der Entwicklung des Desktop-Computers und des PCs (Personal Computer) begann im letzten Viertel des letzten Jahrhunderts eine sich exponentiell beschleunigende technologische Evolution, deren Auswirkungen im Leben der Menschen nur als disruptiv bezeichnet werden kann. So werden seitdem immer mehr und immer neue Kontrollfunktionen auf digitale Steuerungseinheiten übertragen. Das heißt, menschliche Erfahrungen, menschliches Wissen und menschliche Phantasie werden in Algorithmen umformuliert, mit denen Computer Steuerung und Kontrolle übernehmen. In dem Maße, in dem Computer selbstlernend werden, lernen mit einander zu kommunizieren (Internet of Things) und in der Lage sein werden, Fehler selbst zu korrigieren sowie Prozesse und Produkte zu optimieren, wird sich eine Evolution der Maschinen ergeben, die wiederum die menschliche überholen und sich vermutlich ebenfalls exponentiell beschleunigen wird.

Das bedeutet aber auch, dass die Menschen zunehmend aus Produktionsprozessen verdrängt werden. Hinzu kommen die völlig neuen Möglichkeiten der digitalen Welt, die tradierte Produkte in kürzester Zeit obsolet machen. Als Beispiel mag die digitale Photographie gelten, die die analoge Photographie aus dem Markt gefegt hat und eine renommierte, den Markt weltweit dominierende Firma wie Kodak in den Konkurs getrieben und tausende Mitarbeiter um ihre Jobs gebracht hat.

Wir erleben sozusagen „Die Weber – reloaded“. Das „Internet of Things“ wird dieses Stück sicherlich noch häufiger auf die Weltbühne bringen. Und mit der Block Chain Technologie erscheint der potentiell nächste Disruptor am Horizont, der das Potential hat, dieses Stück in weitere Bereiche unserer Gesellschaft zu tragen. Und bei aller von Experten vorgetragenen Skepsis gegenüber gerade dieser durch die Bitcoins bekannt gewordenen Technologie – die Erfahrung der letzte 25 Jahre sagt uns, auch die Evolution dieser Technologie wird vermutlich schneller kommen als erwartet.

Vermutlich wird es immer weniger Menschen geben, die diese Technologien verstehen werden und gegebenenfalls auch kontrollieren können. Mit dem Internet of Things und der Perfektionierung von Robotern geben wir den Maschinen die Möglichkeit, ihre Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen. In Erinnerung an die Weber und den Beginn der industriellen Revolution ist man geneigt die Hoffnung einiger Vordenker im Silicon Valley zu teilen, dass die Maschinen den Menschen von den Lasten des Alltags befreien und die „Condition Humana“ auf eine neue Ebene des Bewusstseins und der Freiheit heben werden. Wenn dem so wäre, kann die Entwicklung gar nicht schnell genug gehen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der ökonomische Gewinn der digitalen Evolution allen Menschen zugute kommen wird und nicht nur einer kleinen Elite.

In seinem Buch „Future Shock“ warnte der Zukunftsforscher Alvin Toffler bereits 1970 vor den psychologischen Folgen einer „schwindelig machenden Disorientierung aufgrund des vorzeitigen Eintreffens der Zukunft“, „durch die Millionen von Menschen zunehmend disorientiert sein werden und zunehmend inkompetent, rational auf ihre eigene Lebensumstände zu reagieren“(meine Übersetzung) (*3). Die politische Radikalisierung in vielen westlichen Gesellschaften und der religiöse Fanatismus sind nur zwei Beispiel für die von Toffler befürchtete Entwicklung. Der Abwärtstrend der Mittelschicht und das Ende des „American Dreams“ in den USA sind zwei Auswirkungen einer Entwicklung, die wesentlich durch den technologischen Fortschritt bestimmt wird. In den europäischen Ländern fühlen sich erkennbar viele Menschen mit Globalisierung, Internationalisierung und medialer Vielfalt überfordert beziehungsweise mit ihren realen oder auch nur empfundenen Problemen allein gelassen. Es fehlt an den überzeugenden, erklärenden und beruhigenden Narrativen der Großmütter aus den Höhlen der Vorzeit. Dies gilt offenbar insbesondere für Menschen, die Halt im Religiösen und Mystischen vermissen. Fanatische Verführer nutzen in geradezu perverser Weise genau die modernsten Technologien, um diesen Menschen einfache, verführende Geschichten zu erzählen, um sie für den Kampf für ein Leben zu gewinnen, in dem es für eben diese Technologien als Instrumente der Freiheit und der Emanzipation keinen Raum geben würde.

Es besteht also die Gefahr, dass die technologische Evolution, die die des Homo Sapiens überholt, für die Mehrzahl der Menschen „too fast forward“ ist. Moderne Maschinenstürmer, Fanatiker und Terroristen könnten dadurch gestärkt und ermutigt werden, diese Entwicklung in eine bessere Welt, in der die Menschen durch Maschinen von ihren „Alltagsplagen“ befreit sein würden, zu verhindern und gegebenenfalls die Technologie für ihre eigenen, repressiven Zwecke zu nutzen.

Es gilt, den Treibern der technologischen Evolution diese Risiken bewusst zu machen. Es geht um viel mehr, aber letztlich geht es auch um die Nachhaltigkeit der Geschäftsmodelle von Google, facebook und Co.. Die intensivere Kontrolle hinsichtlich terroristischer oder Hassposts seitens der Provider ist meines Erachtens ein Beispiel für einen Schritt in die richtige Richtung. Wenn im Silicon Valley verstanden wird, dass die Conditio Humana nicht allein durch Algorithmen, bits, bytes und Marktanteile bestimmt wird, wären die Nerds sicherlich auch in der Lage, eine technologische Evolution zu initiieren, die für die meisten Menschen gar nicht schnell genug gehen könnte. Denn in der Evolution gibt es kein zurück. Und wenn Eric Schmidt und Jared Cohen damit Recht haben (*4), dass wir zur Zeit das größte Experiment in der Geschichte der Menschheit mit Anarchie machen, kann man nur auf mehr Zukunft hoffen, damit das Heute schneller vorbei ist und die positiven Veränderungen schneller wirksam werden.

Die vorüber gehend negativen ökonomischen Folgen der Evolution very fast forward für einige Teile der Bevölkerung wären durch konsequente politische Umsetzung der Regeln der sozialen Marktwirtschaft aufzufangen. Diese Politik müsste begleitet werden durch Investitionen in und die Entwicklung von große Teile der Bevölkerung erfassende Bildungsmaßnahmen. Zu diesen Maßnahmen müsste sicherlich auch mentales Training gehören, in denen die Menschen auf das immer tiefere Eindringen von Technologie in ihr noch immer den Großmüttern in den Höhlen der Vorzeit verhaftetes Leben vorbereitet werden.

(In diesem Zusammenhang siehe auch:

https://techcrunch.com/2016/07/23/recasting-silicon-valleys-role-in-society/   )

*1: Eckart Voland, Athanasios Chasiotis, Wulf Schievenhövel: „Grandmotherhood – The Evolutionary Significance of the Second Half of Female Life“, Rutgers University Press, 2005

*2: Jared Diamond: „Kollaps: warum Gesellschaften überleben oder untergehen“, S. Fischer Verlag, 2005

*3: Farhad Manjoo, „Why We Need to Pick Up Alvin Toffler´s Torch“, New York Times, 6. Juli 2016

*4: Eric Schmidt, Jared Cohen: „The New Digital Age – Reshaping the Future of People, Nations and Business“, Alfred A. Knopf, 2013