Auf dem digitalen Weg in ein neues Mittelalter?
Spiegel-online hat in jüngster Zeit ein Internet-Forum geschlossen, weil man der Hass-Posts und Denunziationen nicht mehr Herr wurde. Twitter sieht sich außerstande, die Kommunikation des „Islamischen Staates“, IS, auf dieser Plattform zu unterbinden. Sind dies Wegmarken auf dem digitalen Weg in eine finstere Zukunft?
Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass sich noch nie in der Geschichte der Menschheit eine Technologie so schnell und so umfassend entwickelt und verbreitet hat wie das Internet. Vermutlich ist auf der Erde aus menschlicher Sicht überhaupt noch nie etwas Neues so schnell gewachsen und hat sich so schnell global verbreitet wie das Internet. Das Wachstum des Webs wird wohl nur von den Replikationsraten von Viren übertroffen, wenn überhaupt. Nüchtern betrachtet ist allerdings auch festzuhalten, dass das Internet noch viel zu jung ist, um über seine Wirkung abschließend zu urteilen. Dies wird späteren Generationen vorbehalten bleiben. Zweifel sind aber angebracht!
Die Matadore der Schönen Neuen Welt des Internets zeichnen ein Szenario von einem sorglosen, freien Leben, in dem uns Maschinen im Wesentlichen die Arbeit und Alltagssorgen abnehmen und wir den offenen, globalen Gedanken- und Informationsaustausch unbeschwert genießen können. In wie weit ein solches Szenario überhaupt mit der Conditio Humana in Einklang steht, sei an dieser Stelle dahin gestellt. Dieser Vision oder vielleicht besser diesem Traum steht eine Realität gegenüber, in der Hass, Niedertracht, Missgunst und offene Repression an der Tagesordnung sind. Vorrangige Aufgaben eines Staates sind es, seine Bürger weitgehend zu schützen und kriminelle Machenschaften zu verfolgen. Eine Gesellschaft basiert auf einem Grundkonsenz , einer gemeinsamen akzeptierten Kultur des Zusammenslebens. Wird der Schutz nicht mehr gewährleistet, werden Konsenz und Kultur ungestraft mit Füßen getreten, ist letztlich die staatliche Ordnung in Gefahr. Bei aller optimistischen Phantasie und den wunderbaren Visionen dürfen weder Staat noch Gesellschaft es zum Beispiel zulassen, dass auf dem Weg ins Paradies die eine Hälfte der Menschheit, gemäß einer aktuellen Studie der UN die weibliche (*1), und Politiker wie Journalisten zu Freiwild werden (*2).
Das Internet konnte vermutlich nur so schnell wachsen und sich verbreiten, weil seine Entwicklung ungeplant und unreguliert chaotisch erfolgte. So ist das World Wide Web das „größte Experiment der Menschheit mit Anarchie“ (*3) Aber aus dem „kreativen Chaos“ (Ilya Prygogine) müssen klare Strukturen entstehen, soll die Kreativität dauerhaft wirksam werden.
Von dem dazu erforderlichen Inflection Point, dem Umkehrpunkt, ist das Netz zur Zeit offenbar noch weit entfernt. Folgt man Eric Schmidt und Jared Cohen (*3), beide verantwortliche Manager von Google, Eric Schmidt ist der ex-CEO, wird uns der Weg in die paradiesische Zukunft der Internet geprägten weltweiten Gesellschaft zunächst in neue web-basierte Dark Ages führen. (Um einer Diskussion darüber, wie unzivilisiert und brutal das Mittelalter denn nun wirklich war, auszuweichen, nutze ich den englischen Begriff, der sich eindeutig auf die aus unserer Sicht negativen Aspekte des damaligen Lebens bezieht.)
Von Anbeginn an haben sich Menschen mit extremen Veranlagungen oder radikalen politischen wie religiösen Ansichten im Netz getroffen. Gestärkt durch das neue, web-basierte Erleben von Gemeinschaft verlieren sie Hemmungen oder finden Wege, gesellschaftlichen Konsens, Regeln und Gesetze zu umgehen. Schlimmer noch, durch das neue Gemeinschaftserleben bestärkt, verrennen sie sich immer tiefer in ihre extremen Meinungen und Veranlagungen. Aktuell erfährt dies die deutsche Öffentlichkeit und Politik durch die Flut von Hass, Verleumdungen und Drohungen im Zusammenhang mit der Flüchtlingsproblematik.
Hier zeigt sich der gefährliche, die Freiheit des Netzes und letztlich den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gefährdende Weg in die Dark Ages. Insbesondere Frauen und Mädchen erfahren in erschreckender Vielzahl, wie weit wir auf diesem Weg bereits voran gekommen sind. Bereits seit den Anfängen des Internets wurden Fälle bekannt, in denen junge Frauen zu sexuellen Handlungen erpresst wurden mit der Drohung, zum Beispiel im jugendlichen Überschwang gemachte Nacktaufnahmen im Internet zu veröffentlichen. Laut einer aktuellen Studie der UN (*1) sind 73% der Frauen und Mädchen, die das Internet nutzen, bereits belästigt und verbal missbraucht worden. Die „Broadband Commission for Digital Development“ der UN hat ihre Studie als weltweiten Weckruf verstanden. Die „cyber violence against women and girls“ (VAWG) habe bereits pandemische Dimensionen angenommen. Die Kommission fordert, politische und regulatorische Maßnahmen, da der Respekt vor und die Sicherheit von Mädchen und Frauen absolute Priorität haben müssten.
Dass sich ein Regulativ im Netz selbst entwickelt, ist zur Zeit nicht zu erkennen. So gehen Schmidt und Cohen in ihrem Buch wie selbstverständlich davon aus, dass es Fälle in sehr konservativen Gesellschaften geben wird, in denen junge Frauen, die, vielleicht weil sie sich einem Mann verweigert haben oder einer Rivalin im Wege stehen, Opfer einer Verhetzungs- und Verleumdungskampagne wurden und sie diese Schmach wie ein Brandmahl unauslöschlich mit sich tragen werden, von Familienangehörigen umgebracht werden, um die Schande von der Familie zu nehmen.
Im Mittelalter wurden vermeintliche oder tatsächliche Missetäter öffentlich an den Pranger gestellt. Im Hinblick darauf war es bezeichnend, dass in jüngster Zeit der Geschäftsführer einer sich pikanter Weise diplomatisch nennenden Organisation das Bild eines Mannes auf Facebook veröffentlichte mit der Frage, wer den Betreffenden kenne, verbunden mit der Beschuldigung, er habe seine Zeche nicht bezahlt.
Im Mittelalter wurden Menschen, vor allem Frauen, als Hexen verleumdet und verhetzt, gefoltert und öffentlich verbrannt. Damals gab es zumindest indirekt das Regulativ, dass die Verleumder befürchten mussten, dass die Verleumdeten sie unter der Folter ebenfalls der Hexerei beschuldigen würden. Heute werden Menschen im Internet anonym verhetzt, durch gezielte verleumderische Angriffe gefoltert und ihre Reputation wird öffentlich verbrannt. Und die Täter müssen nicht befürchten, dass ihnen das Gleiche widerfahren könnte.
Freiheit ist immer die Freiheit des Anderen. An dieses Grundprinzip halten sich heute im Internet besorgniserregend wenige Nutzer. Respekt und Achtung vor dem Mitmenschen, Respekt und Toleranz vor der anderen Meinung, Würdigung von Leistung und Haltung – all dies findet in der Cyber-Welt von Hass, Neid und Missgunst nicht statt. Und diejenigen, die sich verhetzend, verleumdend und drohend im Internet austoben und sich dabei großartig finden, verstehen nicht, dass es Freiheit ist, die sie missbrauchen und letztlich gefährden.
Vor allem Politiker und Journalisten werden aufgrund ihrer öffentlichen Sichtbarkeit verhetzt, verleumdet und bedroht. Sachliche Auseinandersetzung findet kaum noch statt (*4). Für die Freiheit im Internet gefährlich und für eine freiheitliche Gesellschaft besonders bedrohlich, ist darüber hinaus das latente Bedrohungspotential, dass von vielen Nutzern empfunden wird. Sie sind nicht mehr bereit, ihre Meinungen und Ansichten im Internet zur Diskussion zu stellen, weil sie an eine sachliche Argumentation nicht mehr glauben und sich vor den Reaktionen radikalisierter Andersdenkender fürchten. Eine gesellschaftspolitische Diskussion darüber, wie diese Entwicklung einzudämmen ist, ist nicht zu erkennen.
Schutz vor dem, rechtstaatlichen Verfahren entzogenem, Ausspionieren wie vor Denunziation und Bedrohung bietet Anonymität. Sie wird von vielen Insidern als das letztlich befreiende Allheilmittel angesehen. Ein ursprünglich von der US-Navy entwickeltes Netz, das über den Browser Tor jedermann zugänglich ist und als „Dark Net“ bezeichnet wird, sichert seinen Nutzern absolute Anonymität zu.
Jamie Barlett (*5) vertritt die These, dass diese Anonymität uns in letzter Konsequenz in eine freiere Welt führen wird, in der zum Beispiel ein Verkäufer oder Lieferant seinen Kunden nur an sich binden kann, in dem er Spitzenqualität an Waren und Service bietet. Dem Verkäufer liegen keinerlei Informationen über den Käufer vor und er hat keine Möglichkeit, ihn mit Marketing Maßnahmen anzusprechen. Der Kunde aber wiederum kann den Kauf auf der Seite des Verkäufers kommentieren. Der Kauf erfolgt mittels Bitcoins ebenfalls anonym. Als Beispiel für diese Entwicklung dient Barlett die „Silkroad“, eine Plattform, auf der im großen Maßstab illegale Drogen gehandelt werden. In der legalen Welt sind wir von dieser perfekten Kundenorientierung aber noch weit entfernt. Es ist anzunehmen, dass unter ihr zur Zeit vor allem die im Dark Net offenbar auch angebotenen Frauen und Kinder leiden (*6). Denn allein das Verzeichnis der in einem Wiki angebotenen Seiten macht deutlich, dass sich Kriminelle dieses Netzes bedienen. Drogen, Waffen, Frauen, Kinder – das Angebot ist insoweit offenbar ein Abbild der dunklen Seiten der Menschheit. So könnte das Dark Net auch der Schlüssel zu den digitalen Dark Ages werden.
Die wissenschaftlich-industrielle Revolution hat der Menschheit nie vorher geahnte Segnungen gebracht. Aber wir erkennen heute, dass sie gleichzeitig droht, uns unsere natürliche Lebensgrundlage zu entziehen. Leider sind wir erst 200 Jahre nach dem Beginn des industriellen Zeitalters analytisch in der Lage gewesen, dieses Gefährdungspotential zu erkennen und darauf zu reagieren. Dass wir uns in der digitalen Welt auf dem Weg in Anarchie und neue Dark Ages befinden, ist bereits heute klar erkennbar und wird von den Experten – siehe Schmidt und Cohen – sogar als folgerichtige Entwicklung angesehen. Der Tor-Browser und die Möglichkeit, anonym mit Bitcoin zu bezahlen, haben die Spielregeln noch einmal drastisch verändert, positiv wie negativ. Letzterem zuzuordnen ist, dass die „Silkroad“ wenige Wochen, nachdem es dem FBI mit erheblichen Aufwand gelungen war, den Betreiber zu verhaften und die Seite zu schließen, erneut online war.
Um nicht ahnungslos oder mit realitätsfernem Optimismus tiefer in neue „Dark Ages“ hineinzulaufen, erscheint es zunächst einmal entscheidend die Dimension der dunklen Seiten des Internets den Multiplikatoren und Entscheidern in unserer Gesellschaft bewusst zu machen. Den Apologeten der schönen neuen digitalen Welt ist entgegenzuhalten, dass die Revolutionen im Nahen Osten und Iran, in denen die sozialen Medien einen emphatisch gefeierte Rolle gespielt haben, letztlich gescheitert sind. Offenbar bedarf es doch mehr als nur einer freien Kommunikation, um einer Gesellschaft stabil eine neue Struktur zu geben. Auch ist zu fragen, was die Verantwortlichen der großen, weltweiten Internetkonzerne selber gegen die Fehlentwicklungen, gegen den Marsch in die web-basierten Dark Ages tun. Der IS nutzt das Web, um ein latentes Bedrohungspotential aufzubauen oder unmittelbar zu drohen. Gleichzeitig rekrutiert der IS im Wesentlichen über das Internet, hoch professionell und erfolgreich. In einer Anhörung in Washington hat der Direktor des FBI erklärt, dass der Kampf gegen den IS in den Social Media das FBI in ungeahnter Weise herausfordern würde. Twitter gelingt es nicht, die Kommunikation des IS auf dieser Plattform zu unterbinden. Spätestens bei diesen Signalen hätten im Silicon Valley die Alarme schrillen müssen, erinnert die Situation doch in fataler Weise an den Lenin zugeschriebenen Satz, die Kapitalisten würden den Kommunisten die Waffen verkaufen, mit denen Letztere die Kapitalisten erschießen würden. Denn die reale Welt des IS steht den Visionen und Utopien von individueller Freiheit und Selbstbestimmung nicht nur der Internet-Apologeten diametral gegenüber. Am klarsten scheinen die Hacker zweier weltweiter Hackergruppen, Anonymus und Ghostsec, dies erkannt zu haben. Gemeinsam attackieren sie den IS, wo immer er im Netz auftritt. bisher wohl mit durchaus bemerkenswertem Erfolg. Aber wollen wir als dem freiheitlichen Rechtstaat verpflichtete Gesellschaft uns damit zufrieden geben, dass die erfolgreiche Verteidigung unserer Freiheit – und sei es nur der im Netz – von Gruppen abhängt, die erklärter Maßen außerhalb rechtstaatlicher Prinzipien und Regeln agieren?
Nur wer Gefahren und Risiken realistisch einschätzt, kann sie vermeiden. Nur wer Verleumdung und Hass als solche benennt und gesellschaftlich ächtet, wird deren Wirkung eindämmen können. Vielleicht werden wir einen rechtstaatlichen Weg finden müssen, die Verleumder, Hasser und Kriminellen mit den Methoden der Hacker direkt im Netz zu attackieren – vor allen strafrechtlichen Konsequenzen. Aber gibt es eine breite gesellschaftliche oder gar politische Diskussion über diese Perspektiven? Wird in Think Tanks und politischen wie gesellschaftlichen Einfluss- und Machtzentren mit allen Beteiligten um Lösungen gerungen, um die Risken einzudämmen und um einen Weg vorbei an den Dark Ages zu finden? Es wäre dringend geboten, damit die phantastischen Möglichkeiten des Internets, auch die des Dark Nets, für die Zukunft gesichert und ausgeschöpft werden können.
*1: https://www.washingtonpost.com/news/the-intersect/wp/2015/09/24/the-united-nations-has-a-radical-dangerous-vision-for-the-future-of-the-web/
*2: „Menschenjagd im Internet“, Thomas Gutschker, Francesco Giammarco, FAS, 12.04.2015
*3: „The New Digital Age“, Eric Schmidt / Jared Cohen, 2013
*4: „Verleumdung“, Francesco Giammaro, FAS, 11.10.2015
*5: „The Dark Net“, Jamie Barlett, 2014
http://blogs.telegraph.co.uk/technology/jamiebartlett/100014208/the-lighter-side-of-the-dark-net/
*6: „Im Netz der Dunkelheit“, Helene Bubrowski, FAZ, 28.2.2015